Erinnerungen, vorwärts gedacht

von Christel Ruth Kaiser

„Erinnerungen, rückwärts gedacht,
können schnell nostalgisch werden –
nach vorn gedacht aber produktiv sein.“

Friedrich Christian Delius

Herzlichen Glückwunsch, liebe Melanchthon-Schule, zum 75. Geburtstag!

Als vor 15 Jahren der 60. Geburtstag der Melanchthon-Schule im Steinatal gefeiert wurde, bot dieser denkwürdige Anlass eine passende Gelegenheit, die Schulgeschichte des Gymnasiums genauer in den Blick zu nehmen: Zahlreiche ehemalige wie aktive Mitglieder der Schulgemeinde hatten sich damals mit viel Engagement daran beteiligt, die Entwicklung der Schule seit ihrer Gründung 1948 über die Jahrzehnte hinweg in vielerlei Darstellungsformen lebendig werden zu lassen: einerseits mit dem Ziel der wissenschaftliche Aufarbeitung der Historie aus vorhandenen Quellen, andererseits durch persönliche Erzähltexte mit Erinnerungen an Erlebtes während der Schulzeit, wobei sich naturgemäß durchaus unterschiedliche individuelle Wahrnehmungen und Wertungen zeigen.[1]

Noch immer blättere ich gern in der damals publizierten Festschrift, einer bunten Sammlung von Texten, Fotos, Karikaturen etc., weil es spannend und erhellend ist, Stationen der Schulentwicklung in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext wie aus der individuellen Perspektive ehemaliger Schülerinnen und Schüler zu betrachten. Das facettenreich gezeichnete Bild von den Etappen der Schulgeschichte und ihren zeitgenössischen Kommentierungen – angefangen beim Gründungsmotiv 1948 und dem Zusammenleben der „Heimser“ in der Internatszeit, der Wahl des Schulnamens, der Phase der bewegten „68er Generation“ bis schließlich in die beginnenden 2000er Jahre hinein – erlaubt eine differenzierte Sicht auf die ‚Basics‘ der Bildungsarbeit im vergangenen Steinataler Schulleben:

Anstoß zur Gründung der Melanchthon-Schule in der Trägerschaft der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck war die damals – im Ausmaß ihrer kommenden Herausforderungen – sicher noch nicht absehbare Aufgabe, Kindern und Jugendlichen, die nach dem Weltkriegsende aus den ehemals deutschen Ostgebieten geflüchtet – d.h. oftmals heimat- und elternlos – in der Schwalm angekommen waren, „Bildung und ein Zuhause“ zu geben: also eine diakonische Tat! Aus den Schilderungen der Schülerinnen und Schüler dieser ersten Generation spürt man die Not der Nachkriegszeit und zugleich bei allem Mangel an materiellen Gütern die bleibende Dankbarkeit, im Steinatal das „Rüstzeug“ für ihr weiteres Leben empfangen zu haben. Menschliche Fürsorge und Zuwendung – gemäß einer als authentisch erfahrenen Erziehung auf dem Fundament des biblisch-christlichen Menschenbildes – sowie ein breitgefächertes Bildungsangebot – in Anlehnung an den Namensgeber und Bildungsreformator Philipp Melanchthon –, das über den gymnasialen Unterricht in den sprachlichen, gesellschafts- bzw. geisteswissenschaftlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern hinaus anspruchsvolle musisch-künstlerische und sportliche Akzente setzte sowie individuelle Förderung ermöglichte, öffneten den durch ihre Kriegserfahrungen schwer belasteten Jugendlichen Horizonte und Freiräume, um ihre Interessen und Begabungen zu entfalten und Selbstvertrauen für die Zukunft zu gewinnen. Nicht zuletzt trug zu solcher Persönlichkeitsstärkung die Einübung in religiöse Traditionen bei: mit regelmäßigen Andachten, Gottesdiensten und Feiern christlicher Feste im Kirchenjahr.

Darstellungen aus den turbulenten 68er Jahren verschweigen nicht durchaus prekäre Situationen in der Spannung von jugendlichem Protest gegenüber Autoritäten und deren Führungsstil und dem schulischen Anspruch auf Verantwortungsübernahme auf dem Steinataler Campus; dabei überwiegt dann aber sichtlich die Erfahrung eines dennoch offenen, auf freies Denken setzenden Schulklimas im Sinne gegenseitiger Akzeptanz und Toleranz, was die Fähigkeiten der ‚Aufmüpfigen‘ zu konstruktiver (Selbst)-Kritik und sachbezogener Konfliktlösung beförderte und sie – wie ein ehemaliger Zeitgenosse anmerkte – im späteren Leben vor „ideologischer Enge“ bewahrte.

‚Last but not least‘ faszinierte die naturnahe Lage der Melanchthon-Schule „im Herzen der Schwalm“ und wurde zu allen Zeiten als atmosphärisch hilfreich für das Schul- und Internatsleben geschätzt, wirkte das weitläufige Gelände doch schon allein durch seine ästhetische Schönheit anregend und entspannend. Es bot zudem nicht nur reichlich Raum für vielerlei Aktivitäten im Schulalltag und an Wochenenden, sondern auch individuelle Rückzugsmöglichkeiten, die für das Zusammenleben in einer großen Gemeinschaft ebenso essentiell sind.

Fraglos wird man beim weiteren ‚Forschen‘ in den Festschrift-Reminiszenzen noch andere Aspekte auffinden, die in den langen Jahren der Schulgeschichte prägende Bedeutung hatten, – doch dies sei den interessierten Lesern überlassen …

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Einem der prominentesten Melanchthon-Schüler der frühen Zeit, dem Schriftsteller Friedrich Christian Delius (1943 – 2022), der allerdings zu seinem großen Bedauern aufgrund elterlicher Entscheidung nur knapp zwei Jahre (1957/58) als ‚Heimser‘ im Internat verbringen durfte, verdanken wir eine eigens für die Festschrift 2008 verfasste kleine Erzählung, die berührend sensibel veranschaulicht, wie wichtig ihm diese kurze Zeit im Steinatal für seine weitere Entwicklung gewesen ist. Der Text findet sich in nur leicht abgewandelter Form nun auch in seiner – posthum – soeben erschienenen Autobiographie wieder, in deren Vorwort er die Sinn- und Zielsetzung dieser Textart reflektiert und hier einen Kerngedanken formuliert, der wohl auch als Motto für die Erinnerungskultur im Zuge unseres Schuljubiläums taugt:

„Erinnerungen, rückwärts gedacht, können schnell nostalgisch werden –
nach vorn gedacht aber produktiv sein.“

Demnach greift ein ‚Schwelgen‘ im Erinnern vergangener Zeiten zu kurz, wenn man  ausschließlich um sich selber kreist mit der Tendenz, die Vergangenheit im Licht eigener Sichtweise zu ‚verklären‘. Hingegen können Erinnerungen an Bedeutung gewinnen, Entwicklungen verstärken, wenn sie als zukunftsweisende Impulse wirksam werden.

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Die Memoria der jetzt 75-jährigen Melanchthon-Schule ist über die Jahrzehnte ihres Bestehens nicht allein mit reichem Schrifttum dokumentiert worden. Sehr lebendig fassbar wird sie auch in Erzählungen, mit denen Ehemalige bei ihren allseits beliebten Treffen oder bei Festveranstaltungen des Gymnasiums ihre Erlebnisse und Erfahrungen austauschen. So wird der ‚Ball der Erinnerungen‘ nachfolgenden Generationen zugespielt. Tragfähige, identitätsstiftende Elemente aus der Schulvergangenheit können dann zu Entwicklungsprozessen beitragen, sofern sie das Potential haben, der Bewältigung von Aufgaben in einer neuen Zeit und ihrem Anspruch an die Bildungs- und Erziehungsarbeit an einer evangelischen Schule unterstützenden Schwung zu verleihen.

Heute kann die Melanchthon-Schule in Dankbarkeit und stolz auf ihre lange, erfolgreiche Schulgeschichte mit nachhaltiger Prägekraft für ihr gegenwärtiges Erscheinungsbild zurückschauen. In der Spur dieser reichen Tradition setzt sie weiterhin „produktiv“ auf Fundamente, die sich in den vergangenen Jahrzehnten bewährt haben, und öffnet zugleich ihre Schulentwicklung für innovative Ideen und Entwicklungsschritte, damit das Lernen und Leben in evangelischer Perspektive auch heute gelingen kann.

Wie sich das im Schulalltag unserer Tage konkret darstellt, lässt sich auch für ‚Externe‘ sehr differenziert anhand der Homepage studieren, die ‚Basistexte‘ wie die Schulverfassung, das Schulprogramm und die Schulordnung dokumentiert und über laufende Projekte, wichtige Ereignisse im Schulleben, Organisationsfragen und Themen der Schulentwicklung Auskunft gibt. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, dazu Einzelheiten anzuführen; darum seien hier aus dem breiten Spektrum der schulischen Aktivitäten – über das Unterrichtsangebot hinaus – nur einige Stichworte genannt: sozial-diakonischer Schwerpunkt, Beratungsnetzwerk, Schulseelsorge, Schulsozialarbeit, Schüler helfen Schülern, Begabtenförderung, Schulsanitätsdienst, Berufsorientierung, Schulposaunenchor sowie zahlreiche weitere Angebote im musisch-künstlerischen Bereich etc., – ein anschauliches, vielseitiges Bild der aktuellen Bildungs- und Erziehungsarbeit an der Melanchthon-Schule Steinatal im Jubiläumsjahr 2023, worin unschwer Verbindungslinien zu früheren Etappen der Schulgeschichte identifizierbar sind.

So bleibt zu hoffen, dass die Schulgeschichtsschreibung von 2008 irgendwann ihre Fortsetzung finden wird: zur Erinnerung an vergangene Schulzeiten und als Anregung für zukünftige Schulentwicklungsschritte.

Ich gratuliere der Melanchthon-Schule, wünsche ihr weiterhin viel Erfolg und immer wieder schöne Anlässe, die ‚Ehemalige‘ und ‚Aktive‘ zu Fest und Feier zusammenführen!


[1] s. dazu „60 Jahre Schulgeschichte(n)“, Steinataler Hefte 6/2008

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