Dr. Michael Dorhs
Schulreferent der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck
Liebe Festgemeinde,
evangelische Schulen gehören zu einer Wachstumsbranche. Die Anzahl der Schülerinnen und Schüler steigt – bundesweit, in unserer Landeskirche und auch an der Melanchthon-Schule. Was man im Blick auf die Mitgliederzahlen der evangelischen Kirche nicht sagen kann – nämlich, dass sie wachsen gegen den Trend – für die evangelischen Schulen gilt das! Erstaunlich – und (hoffentlich nicht nur) aus der Sicht eines Schulreferenten ausgesprochen hoffnungsvoll!
Was schätzen Eltern an evangelischen Schulen? Warum schicken Sie ihre Kinder z.B. auf die Melanchthon-Schule? In erster Linie wird die individuelle Betreuung genannt. Zu Recht! Wir sehen in jedem Kind ein einmaliges Geschöpf Gottes, das ein Recht darauf hat, in der Entfaltung seiner individuellen Persönlichkeit begleitet und unterstützt zu werden. Niemand soll verloren gehen! Deshalb gibt es zusätzliche Zeit („Melanchthon-Stunden“) und Förderkonzepte für diejenigen, die es ohne gezielte Unterstützung nur schwer schaffen würden, einen guten Schulabschluss zu erwerben. Diese besondere Lernkultur prägt das Schulleben im Steinatal. Sie bildet die Basis für einen respektvollen Umgang untereinander und für das gute soziale Klima, das an unserer Schule herrscht.
Ob nun bewusst oder instinktiv – Eltern spüren das und reagieren auf eine solche Pädagogik, die am christlichen Menschenbild orientiert ist. Gefragt sind evangelische Schulen als gute Schulen und die Lehrerinnen und Lehrer dieser Schulen als gute Lehrkräfte. Und die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck ist stolz, dass ihre Melanchthon-Schule solche Lehrkräfte hat! Es ist Ihre Arbeit, liebe Kollegiumsmitglieder, die in die Region ausstrahlt und die dafür sorgt, dass viele Eltern ihr Kind gerne auf unser evangelisches Gymnasium mit seiner besonderen Lernkultur schicken! Dafür danke ich Ihnen.
Dabei ist völlig klar – die einschlägigen Untersuchungen auf EKD-Ebene zeigen das: Die pädagogische und fachliche Kompetenz der Lehrerinnen und Lehrer rangiert bei einem Großteil der Eltern vor dem, was die Lehrkräfte spirituell einzubringen haben.
Aber es ist ebenfalls völlig klar: Diese spirituelle Kompetenz der Unterrichtenden ist die Basis jeder wirklich evangelischen Schule. Strukturen schulischen Lebens, wie z.B. die Andachten und Gottesdienste, der verbindliche Religionsunterricht für alle oder die Schulseelsorge, sind unverzichtbar. Sie sind es, die geistliches Leben an unserer Schule zuallererst ermöglichen.
Nur, die vorhandenen Strukturen allein sind noch keine Garanten für geistliches Leben. Erst wenn sie von überzeugenden Lehrpersönlichkeiten mit Leben gefüllt werden, von Menschen, die sich transparent machen in ihrem christlichen Glauben, die sich von ihren Schülerinnen und Schülern befragen lassen auf das, was sie im Leben trägt, worauf sie hoffen, woran sie zweifeln, erst dann entsteht an unserer Schule so etwas wie eine geistliche, eine spirituelle Gemeinschaft. Eine christliche Schulgemeinde „am Weg“ oder „auf Zeit.“ Denn auch das wollen wir ja sein: Ein Ort, an dem christlicher Glaube und evangelische Kirche niederschwellig erfahrbar, erlebbar werden können.
Ihnen als Lehrerinnen und Lehrer kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Sie sind das Kontinuum. Die Schülerinnen und Schüler und mit ihnen deren Eltern wandern weiter, spätestens nach neun Jahren. Aber Sie als Kollegium, Sie bleiben! Und Sie tragen nicht nur den Unterricht, sondern auch die Schulkultur. Deshalb ist es nicht egal, wer hier arbeitet. Sondern wir brauchen Menschen, die gerne und mit Überzeugung auf der Basis des christlichen Menschenbildes miteinander lehren, lernen und leben wollen. Damit wir auch in Zukunft unterscheidbar, erkennbar bleiben, erkennbar evangelisch.
Allerdings ist das mit dem „Erkennen“ so eine Sache. Wer etwas erkennen will, der muss vorher bereits etwas kennen. Wer nicht lesen kann, hat nicht viel von Büchern. Wer religiös-christlich „ungebildet“ ist, wie soll der sich ein Urteil bilden z.B. über evangelische Schulen? Er sieht, was er kennt. Und wenn’s gut geht, erkennt er vielleicht-hoffentlich die Qualität der Schule. Ihren Wurzelgrund aber, den erkennt er nicht. Getreu dem Motto der Baedecker-Reiseführer, dass nur derjenige, der mehr weiß, auch mehr sieht.
Was aber tun, wenn religiöse Bildung und damit auch der Kennerblick für das „typisch Evangelische“ seit Jahren im Schwinden ist und die „Kenner“ immer weniger werden? Das ist ein echtes Problem, auch und gerade für evangelische Schulen. Denn sie sind darauf angewiesen, „erkennbar“ zu sein, sich von den anderen Anbietern zu unterscheiden, das „Eigene“ bewusst herauszustellen, um auf dem demographisch kleiner werdenden Schülerinnen- und Schülermarkt bestehen zu können.
Die Antwort mindestens des letzten Jahrzehnts lautete: „Das evangelische Profil stärken!“ Landauf, landab haben Kirchenleitungen und Synoden das gefordert, nicht nur von ihren Schulen, sondern von allen ihren Bildungseinrichtungen und -angeboten. Auch von mir haben die Kolleginnen und Kollegen unserer drei Schulen solche Sätze gehört (und manchmal auch darüber geseufzt)! Inzwischen zweifle ich, ob dieser Ansatz wirklich sachgemäß und zielführend ist.
Wenn man die biblische Tradition durchmustert, bleibt man im Blick auf die Suche nach dem evangelischen Profil ergebnislos. Das verwundert eigentlich nicht. Denn das Evangelium ereignet sich ja in Begegnungen, also in Zuwendung von Angesicht zu Angesicht. Insofern überrascht es gar nicht, dass Jesus als der Inbegriff von Zugewandtheit konsequent profillos bleibt. Stattdessen gibt es ein großes Angebot an Einträgen zu den Stichworten „Antlitz“ oder „Angesicht.“
Was man von Jesus lernen kann, ist dies: Das Evangelium hat kein Profil, es hat ein Gesicht. Das Evangelium zeigt nicht sein Profil. Es stellt es schon gar nicht heraus. Sondern es wendet sich zu, von Angesicht zu Angesicht. Es will nicht gesehen werden, sondern es nimmt selber in den Blick. Wenn ich wissen will, wer ein Mensch ist, dann sage ich nicht: „Zeig mir dein Profil!“ Ich sage vielmehr: „Zeig mir Dein Gesicht!“, genauer, ich sage: „Schau mir in die Augen!“ Denn – so sah Jesus es jedenfalls: „Das Auge ist das Licht des Leibes“. Man muss jemandem in die Augen schauen, um den hellen Blick zu sehen oder, ob es in ihm finster ist. Wer hingegen nur sein Profil zeigt, der schaut nicht in meine Richtung. Der wendet sich ab und schaut an mir vorbei. Will man von Jesus lernen, was das Evangelium ist, dann muss man ihm ins Gesicht schauen und in diesem Gesicht sich selber spiegeln.
Für alle, die in einer unserer drei Schule „erkennbar evangelisch“ arbeiten wollen, heißt das: Es kommt darauf an, wie sehr Sie in Jesu Gesicht geschaut haben, wie sehr Sie sich von ihm und seiner Botschaft haben beeindrucken, wie sehr Sie sich von ihm und seinem Geist haben bestimmen lassen. Von seinem wertschätzenden Blick auf jedes einzelne Kind. Von seinem Umgang mit Vielfalt. Von seinem Verständnis von Bildungsgerechtigkeit. Das erscheint mir auch für die Zukunft unserer drei Schulen essentiell zu sein. Nicht nur für uns als Leitende und Lehrende, sondern auch für diejenigen, denen wir etwas davon weitergeben, vermitteln wollen. Denn nur das, was wir selbst uns von Jesu Blick auf Gott und die Welt angeeignet haben, das wird auch bleiben! Anderen etwas davon wertvoll machen, den Schülerinnen und Schülern und ihren Eltern, das können wir nur, wenn wir dessen Wert selbst zu schätzen wissen. Andernfalls setzen wir uns dem Verdacht aus, dass wir als Christinnen und Christen in einer evangelischen Schule von etwas reden, das wir selbst gar nicht glauben oder dass es gar nicht gibt.
Die Wirkung des Evangeliums ist nicht nur an Worte gebunden, sondern den Worten müssen auch Taten folgen, sonst ist es nicht weit her mit der Überzeugungskraft des Evangeliums. „Keiner darf verloren gehen“ – dieses pädagogische Credo eines Johann Hinrich Wichern ist aus meiner Sicht das Fundament allen evangelischen Bildungshandelns. Ob es um das Konzept „Schüler helfen Schülern“ geht oder die Teilnahme von besonders Begabten an Leistungswettbewerben auf Bundesebene, ob „Buddys“ den neu auf die Schule gekommenen SuS beim Ankommen helfen oder das Beratungsnetzwerk mit Schulsozialarbeit und Schulseelsorge diejenigen auffängt und begleitet, die innerlich aus dem Tritt geraten sind – das neue Schulprogramm der MSS – übrigens aus der Mitte des Kollegiums heraus maßgeblich formuliert! – hat hier vieles ganz richtig auf den Punkt gebracht. Und das ist gut so! Denn als evangelische Kirche und als evangelische Schule könnten wir uns abmelden aus der Geschichte und unsere Spuren würden wie von selbst verwehen, wenn wir darauf verzichteten, den verlorenen Schafen hinterherzulaufen oder uns nach jedem unter die Kommode rollenden Groschen zu bücken. Für uns geht es immer um beides: Um Lernen und Leben, um Fordern und Fördern, um Handlungswissen und Lebensgewissheit, um Vernunft und kritischen Glauben, um Aufbruch in die Freiheit und um die innere Beheimatung in einer immer unübersichtlich werdenden Welt.
Gibt es für eine Erfolgsgarantie für ein solchermaßen auf dem Boden des Evangeliums entfaltetes Bildungskonzept? Nein, der Erfolg bleibt unverfügbar, weil die Wirkweise des Evangeliums nicht in unseren Händen liegt. Im Johannesevangelium bringt Jesus es auf den Punkt, „dass nämlich der Geist weht, wo er will,“ man sein Sausen wohl höre, aber man niemals wisse, woher er komme und wohin er gehe. (Joh 3,8) Ein Greul für jeden Schulentwicklungsprozess und jede Unterrichtsevaluation, ein Greul auch für alle kirchlichen Haushälter und Landessynodale, die angesichts der (übrigens ausgesprochen überschaubaren) Kosten nach dem messbaren Erfolg der evangelischen Ausrichtung unserer drei Schulen fragen. Aber weder lassen sich Kinder durch religionspädagogische Module konditionieren noch Gottesdienstbesucher durch Predigt und Liturgie verlässlich steuern. Es ist eben so, dass wir unsere Saat auf ein sehr unterschiedlich ertragreiches Ackerfeld ausbringen. Manches fällt auf den Weg und wird von den Vögeln gefressen. Anderes fällt auf steinigen oder zu trockenen Boden und verdorrt. Aber manches fällt eben auch in die gute Erde und bringt Frucht, dreißig-, sechzig- der sogar hundertfach. (Mk 4, 3-9).
Damit sie mich nicht falsch verstehen: Es spricht überhaupt nichts gegen, sondern alles für einen fachlich anspruchsvollen und didaktisch-methodisch gut konzipierten Unterricht. Ohne inhaltliche Expertise, ohne pädagogischen Sachverstand geht es nicht. Und ich bin froh und dankbar für das Engagement und die geballte Fachlichkeit, die es in hoher Qualität bei den Kolleginnen und Kollegen unserer MSS gibt. Evangelische Schule war und bleibt auch in diesem Sinne immer „gute Schule!“
Aber ob unsere Saat im Leben der Schülerinnen und Schüler aufgeht, das haben wir im Letzten nicht in der Hand. Wir legen nur die Basis, fachlich und spirituell. Und wir hoffen darauf, dass ihnen das, was wir uns angeeignet und erfahren haben und dann an sie weitergeben, dass ihnen das eine Hilfe sein wird, sich im Leben gut zu verwurzeln und sie getrost ihren Weg finden. Mehr geht nicht an einer evangelischen Schule – weniger aber auch nicht!