Keiner darf verloren gehen!

von Gudrun Neebe

Keiner darf verloren gehen!

So lautete das Motto der Synode der Evangelische Kirche in Deutschland im Herbst 2010!

Seither ist viel Zeit vergangen. Dieses Motto haben sich zum Glück viele evangelische Einrichtungen zum Ziel ihrer Arbeit gemacht. Leider ist das noch immer nötig, denn mehrere Studien weisen auf, dass die geforderte Bildungsgerechtigkeit immer wieder in den Blick gerückt werden muss. Im Frühjahr dieses Jahres fanden dazu gleich zwei große (evangelische) Tagungen (in Münster und in Berlin) statt. Dieses Motto ist darum auch zum Leitziel der schulpädagogischen Arbeit an der Melanchthon-Schule im Steinatal geworden. Genau genommen war es auch schon das Leitziel in den vielen Jahren vorher seit dem Bestehen der Schule, die in diesem Jahr ihr 75-jähriges Jubiläum feiert.

Manch einer mag sich fragen, inwiefern ein evangelisches Gymnasium ein solches Motto haben kann. Müsste die evangelische Kirche dann nicht eher eine Förderschule oder eine Hauptschule betreiben? Ich möchte hier nicht in die Debatte um Inklusion oder um die nach wie vor bestehende Dreigliedrigkeit des Schulsystems einsteigen. Stattdessen ist es mir wichtig zu erläutern, warum auch an unserem Gymnasium, das sich eine besondere Lernkultur auf die Fahnen schreibt, dieses Motto zum Leitziel werden sollte.

In den Gesprächen vor der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern wird sorgfältig erwogen, ob die MSS für die jeweilige Schülerin oder den Schüler der angemessene Ort für die weitere Schulausbildung ist. Denn die Schülerinnen und Schüler sollen sich an der MSS wohl- und am richtigen Ort fühlen. Ist die Entscheidung für die MSS als künftigem Schulort gefallen, so ist fortan die einzelne Schülerin bzw. der einzelne Schüler im Blick, damit sie bzw. er nicht „verloren“ geht. Was das im Einzelnen bedeutet, hing und hängt sowohl von den jeweiligen Herausforderungen ab, denen sich die Schule immer wieder stellt, wie auch von der einzelnen Schülerin bzw. dem einzelnen Schüler. Denn sie alle sind einzigartige Geschöpfe Gottes, individuelle Ebenbilder Gottes, das ist zutiefst unsere Überzeugung, die Überzeugung all derer, die die MSS als evangelischen Lern- und Lebensort gestalten und stetig weiterentwickeln. Darin wird die reformatorische Tradition konkret.

Wenigstens kurz will ich auf die Herausforderungen eingehen, die uns zurzeit beschäftigen: Die zunehmende Digitalität ist eine davon. Durch die Pandemie hat digitales Lernen einen ungeheuren Schub bekommen. Glücklicherweise konnten wir die Schulgebäude gerade noch rechtzeitig vorher gut herrichten und die technische Infrastruktur entsprechend schaffen, so dass digitaler Unterricht in Zeiten der Pandemie möglich war. Es stellt sich aber mit Nachdruck die Frage, in welchem Umfang digitales bzw. analoges Lernen didaktisch sinnvoll ist, wie das verantwortlich gestaltet werden kann und vor allem auch, wie Schülerinnen und Schüler darauf gut vorbereitet werden können, mit digitalen Medien sachgemäß und verantwortungsbewusst umzugehen.

Die gegenwärtigen Krisen (Krieg in der Ukraine, Klimawandel, Energieversorgung) sind weitere wichtige Herausforderungen. Mit ihnen stellen sich Fragen, die besprochen und beantwortet werden müssen. Dabei wird deutlich, dass den Schülerinnen und Schülern derartig existentielle Krisen ganz neu sind. Neu ist für sie auch, wie schwierig es ist, Antworten zu finden und zu einer eigenen Positionierung zu kommen. Ambivalenz und Ambiguitätstolerenz sind nun nicht mehr nur „schwierige Worte“, deren Bedeutung wie Vokabeln zu lernen sind. Es wird viel mehr im Unterricht und im Ringen miteinander ganz konkret, was das bedeutet. Dass diesem miteinander Ringen Raum und Zeit gegeben wird und dass die psychischen Beeinträchtigungen, unter denen Schülerinnen und Schüler leiden, nicht nur wahrgenommen, sondern auch aufgegriffen werden (Schulseelsorge, Schulsozialarbeit) und dass wir die Frage danach stellen, was die Resilienz von Menschen (Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern) stärkt, zeichnet uns als evangelische Schule aus.

Schließlich möchte ich die Verknappung von Ressourcen nennen. Dies klang im vorhergehenden Abschnitt mit den Stichworten Klimawandel und Energieversorgung schon an. Herausfordernd ist aber auch der Fachkräftemangel, die für unsere Schule vor allem Lehrkräftemangel bedeutet, und der Rückgang der finanziellen Ressourcen, was in zwei Hinsichten wichtig ist. Zum einen müssen wir mit dem Land Hessen um eine angemessene Ersatzschulfinanzierung ringen und wissen dabei, wie belastet die öffentlichen Kassen sind, zum anderen ist auch bei unseren eigenen finanziellen Ressourcen (Kirchensteuerrückgang) eine negative Entwicklung zu verzeichnen. Das „semper reformanda“ ist daher gegenwärtig vor allem auch durch den Umgang mit diesen Herausforderungen geprägt.

Martin Luther und Philip Melanchthon sind in ihrer Zeit engagiert für die Bildung, vor allem für die Gründung evangelischer Schulen eingetreten. Jungen und Mädchen sollten in ihnen die Chance auf eine grundlegende allgemeine und religiöse Bildung erhalten, um mündig und urteilsfähig zu werden. So forderte Martin Luther in seiner Schrift „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen“ von der „staatlichen Obrigkeit“ für eine gute Schulbildung Sorge zu tragen und ggf. Schulen einzurichten. Melanchthon machte es sich zur Lebensaufgabe, das Schul- und Universitätswesen zu reformieren. Deshalb wurde er von seinen Zeitgenossen „Lehrer Deutschlands“ genannt. Sein Anliegen war humanistisch und reformatorisch zugleich: Die Erziehung eines jeden Menschen ist notwendig, weil nur sie ihn mündig macht, in einer geordneten Gesellschaft zu leben, und weil sie ihn vorbereitet, das Evangelium zu hören und zu verstehen. Aus dieser Erkenntnis heraus setzte sich Melanchthon für die Schulpflicht für alle ein. (Vgl. dazu die Ausführungen auf der Homepage der Melanchthon-Akademie in Bretten.) Deswegen tragen zu Recht Schulen den Namen „Martin Luther“ oder „Philipp Melanchthon“ – auch wenn das nicht immer den Lehrkräften oder Schülerinnen und Schülern bewusst ist und dieser Hintergrund oftmals nicht mehr bekannt ist.

Melanchthon und Luther engagierten sich gemeinsam, setzen dabei aber auch unterschiedliche Akzente. Im Blick auf die Bildungsinhalte der einzurichtenden Schulen z.B. hatten sie durchaus unterschiedliche Vorstellungen. Möglichweise war das für die Namensgebung der Melanchthon-Schule am Ende ausschlaggebend.

Grundlegende allgemeine und religiöse Bildung ist in all den zurückliegenden Jahrzehnten das erklärte Ziel gewesen und muss es auch weiterhin bleiben, denn darin zeigt sich das Evangelium als Basis allen schulpädagogischen Handelns in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.

Melanchthon-Schule Steinatal semper reformanda, damit sie ihr Leitziel nicht aus dem Blick verliert. „Nicht, dass ich es schon ergriffen habe, ich jage ihm aber nach …“ schreibt Paulus (Phil. 3,12). Dem schließen wir uns an. Denn uns ist bewusst, dass es sich bei diesem Leitziel um eine regulative Idee handelt, die sich nie ganz und gar umsetzen lassen wird, die aber gleichwohl stets verfolgt werden will. Was das in den zurückliegenden 75 Jahren jeweils bedeutet hat und wie sehr dieses Ziel erreicht wurde, möchte ich aus heutiger Perspektive nicht beurteilen. Zum einen bin ich mir bewusst, dass ich meine zeitbedingte Perspektive nicht ausblenden kann, zum anderen ist es eine Binsenweisheit, dass „man hinterher immer schlauer“ ist.

Gleichwohl will ich verdeutlichen, wie gegenwärtig an der Umsetzung dieses Leitzieles gearbeitet wird. Das könnte auch für die Zukunft bedeutsam sein! Ich verweise dazu auf das neue Schulprogramm, das aus dem Kollegium heraus entwickelt wurde und aufzeigt, dass und wie fachliche Förderung und Persönlichkeitsentwicklung miteinander zu verschränken sind und verschränkt werden.

Alle, die die konfessionelle Bindung der Schule mittragen und in konkretes pädagogisches Handeln umsetzen, gestalten die MSS mit. Äußeres Kriterium dafür ist die Kirchenzugehörigkeit der Lehrkräfte. Sie alle gestalten gemeinsam das evangelische Profil der Schule im Sinne einer christlichen Schulkultur. Nur so erhalten Schülerinnen und Schüler die Möglichkeit auch zu spüren, dass sie an einer Schule lernen, die ein anderes Wirklichkeitsverständnis voraussetzt als eine staatliche Schule. Nur so ist es möglich für Schülerinnen und Schüler christliche  Schulkultur zu erleben.

Schülerinnen und Schüler müssen nicht der evangelischen Kirche angehören, aber sie müssen bereit sein, sich auf eine evangelische Schulkultur einzulassen. Dadurch entsteht eine Heterogenität der Schülerschaft, die die Lehrkräfte deutlich fordert. Nur in diesem Setting aber wird es möglich einzuüben, einander zu achten, mit Unterschiedlichkeit zurechtzukommen – sozusagen im kleinen Schulkosmos zu lernen, was nötig ist, um in der Gesellschaft als Ganzer den eigenen Platz zu finden und sie mitzugestalten.

Unterschiedliche Herkünfte, soziale Ausstattungen, Beeinträchtigungen, Weltsichten, Lernvermögen u.a. mehr kennzeichnen die Heterogenität, die Tag für Tag das Miteinander von Lehrkräften und Schülerinnen und Schüler bestimmt. Gleichwohl soll jede einzelne Schülerinnen und jeder einzelne Schüler bestmöglich begleitet und unterstützt werden. Nicht immer gelingt das, weil menschliches Handeln unhintergehbar begrenzt ist. Aber das ständige Bemühen aller ist die bleibende Voraussetzung des Gelingens.

Damit wird den Lehrkräften viel abverlangt, aber nicht sie, sondern die Schülerinnen und Schüler stehen im Zentrum der schulpädagogischen Arbeit. Es geht nicht nur um überzeugende Schulkonzepte, sondern auch um Erziehung und Persönlichkeitsbildung, um die Gestaltung des Schulalltags – des Miteinanders im Unterricht wie in den Pausen. Oft genug muss dabei auch die Gestaltung der freien Zeit der Schülerinnen und Schüler über den Schulalltag hinaus mit in den Blick genommen werden. Es ist der „evangelisch gebildete Mensch, der ganz und ganzheitlich im Fokus der Bildungsarbeit im Steinatal steht. Das bleibt wichtig, auch wenn die MSS heute kein Internat mehr betreibt.

Einige „Besonderheiten“ bzw. Alleinstellungsmerkmale sollen nun besonders in den Blick genommen werden:

Die MSS ist eine evangelische Schule. Sie steht in einer langen reformatorischen Tradition. Das christliche Menschenbild ist für sie leitend. Religionsunterricht, Schulgottesdienste, Andachten, eine christlich/evangelische Perspektive in allen Lernfeldern, die Melanchthon-Stunden als Profilstunden, das besondere Förderkonzept zeichnen sie aus. Die MSS ist ein besonderer kirchlicher Ort, sie ist „Kirche auf Zeit“ oder „Kirche am Weg“, die den Schülerinnen und Schüler und ihren Familien niedrigschwellige Erfahrungen von und mit Kirche und Glauben ermöglicht. Diese können dann an anderen Ort ergänzt und intensiviert werden und wie sich zeigt, werden sie das auch.

Die MSS bietet ihren Schülerinnen und Schüler mehrere Schwerpunktsetzungen, darunter auch eine hochwertige musikalische Ausbildung einschließlich einer intensiven Posaunenarbeit, Chorarbeit, Orchesterarbeit. Sie bestimmen das reichhaltige Angebot der MSS wesentlich mit. Das wirkt sich auch in die Region hinein aus, indem Schülerinnen und Schüler die Chöre der Region auf vielfältige Weise (Schlagzeug, Bläser, Chorleitung etc.) bereichern.

Schulseelsorge und Schulsozialarbeit mit ihren vielfältigen Angeboten und Unterstützungensind ein tragender Pfeiler im Schulalltag. Dabei ist zurzeit besonders zu bedenken, dass durch die Pandemie bedingt Schülerinnen und Schüler einen erhöhten Beratungs- und Unterstützungsbedarf haben.

Lerndiagnose und individuelle Förderung tragen erheblich dazu bei, dass die MSS ihrem Leitziel gerecht wird. Förder- und Unterstützungsbedarf wird individuell diagnostiziert, so dass Schülerinnen und Schüler zielgerichtet und bedarfsgerecht begleitet werden können.

An der MSS wird konkret deutlich, was es bedeuten kann, in evangelischer Perspektive „gute Schule“ zu gestalten. Damit bringt sich die EKKW in die unterschiedlichen schulpädagogischen Debatten ein. Sie erhebt landesweit nicht nur ihre Stimme, in dem sie in die unterschiedlichen Diskurse die christlich bestimmte Orientierung einträgt, sondern sie zeigt eben auch ganz konkret, dass gelingen kann, was theoretisch behauptet wird.

Damit setzt sich die EKKW einer fortwährenden Diskussion aus. Sie will Schule mitgestalten, für ihr Leitziel eintreten, ihre Einsichten vertreten und ihre Argumente einbringen. Das erfordert selbstverständlich auch Ressourcen (Geld und Engagement) über die staatliche Ersatzschulfinanzierung hinaus. All diejenigen, die damit befasst sind, erleben das täglich. Mit guter Bildung kann die EKKW nicht Geld verdienen. Sie ist vielmehr darauf angewiesen, dass sich Menschen mit Herzblut für gute Bildung einsetzen über das hinaus, was ihnen finanziell vergolten werden kann. Aus meiner Sicht kann es nicht anders gehen. „Gute Schule“ lebt wie gute Bildung davon, dass sich Menschen hier engagieren, um der Menschen willen, denen sie Tag für Tag begegnen. Wer das nicht will oder (aus welchen Gründen auch immer) nicht kann, der ist im Bereich der Bildung – auch der schulischen Bildung – leider falsch, und wer nicht versteht, dass gute Bildung einen hohen Ressourcen-Einsatz verlangt, der muss sich noch intensiver mit Bildung beschäftigen.

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